AUS LIEBE & LEIDENSCHAFT

Deine Vogelscheuche ist schön

Über einen kleinen Jungen, der lange und furchtlos tauchen kann, die höchsten Bäume erklettert, sich immer neue, fantasievolle Spiele im Wald ausdenkt, den ganzen Sommer über Stock und Stein barfuß läuft, der Erich Kästner mag, schnitzt, bis der Arzt kommt, 🙂 und seiner kranken Schwester oft ein toller Helfer ist. Er ist ein MICHL aus dem Bilderbuch. Nur, gibt es auf all das Großartige keine Schulnoten.

Herrje, im  Seilspringen wird ihm bescheinigt: gänzlich untalentiert. Er hätte eine Hühnerschrift und sei ein Schisser, wenn er im Unterricht sagt, er wolle „Das kleine Gespenst“ nicht mit schauen, weil er sich gruselt. Und die Vogelscheuche. Nur ein Dreier. Lustig sieht sie aus und bunt. Das Kriterium der Bewertung einer Vogelscheuche im Kunstunterricht eines gerade 8-Jährigen kenn‘ ich nicht. Ich weiß nur, dass sich dieses Kerlchen sehr bemüht. Er möchte sogar Kunstmaler werden.

Wir bestärken ihn in all seinem Tun. Wir lassen ihm Raum, den er braucht, um seine Einzigartigkeit zu leben und wir bauen ihn auf, wenn er nicht versteht, was um Himmelswillen mit dieser Vogelscheuche nicht in Ordnung sei.

Haben wir als Erwachsene nicht auch unsere Stärken und manchmal Schwächen?  Gute Tage und Tage, an denen nichts gerade läuft? Nur bekommen Lehrer und wir als Eltern keine Noten … Gestern sagte ich zu meiner Freundin: „Wer will denn einen Ehemann, der Seil springt und exakte Vogelscheuchen im Garten positioniert?“

Viel beliebter und nachhaltiger sind doch die Jäger und Sammler.

Bleib genauso wie du bist, mein Kind!

Kinder sollten mehr spielen, als viele heut zutage tun. Denn wenn man genügend spielt, solange man klein ist, dann trägt man Schätze mit sich herum, aus denen man später ein Leben lang schöpfen kann. Dann weiß man, was es heißt, in sich eine warme Welt zu haben, die einem Kraft gibt, wenn das Leben schwer wird.

Von Astrid Lindgren, Münchner Abendzeitung den 4. November 1997